SpielRaumSprache

Gudrun Rathke

Einblick in die Lebensgeschichte

Wie man Erzählerin wird?

Vielleicht braucht es dazu eine Großmutter, wie ich sie hatte? Eine, die sich nie bitten ließ, wenn wir Kinder um eine Geschichte bettelten. Vielleicht auch ein Elternhaus voller Bücher, in denen die Geschichten warteten, lesend selbst entdeckt zu werden? Vielleicht einen Garten voller Blumen, einen Kirschbaum, den wir nicht besteigen sollten und auf den wir natürlich doch kletterten, um uns Kirschen zu holen?

Sicherlich braucht es dazu Träume und einen gut gefüllten Sack mit Phantasie. Sicherlich braucht es auch das Vertrauen, dass alles da ist: die Füße fest am Boden stehen, die Stimme gut sitzt und jede Geschichte ihr Ende findet.

Vor allem aber braucht es Menschen, die gerne zuhören, die sich ganz Ohr mit nehmen lassen in erzählte Wirklichkeiten und in Geschichten eintauchen. Ob sie vier Jahre alt sind und mit großen Augen an den Lippen hängen oder ob auf den Gesichtern von Achtzigjährigen ein Lächeln erscheint, ist nebensächlich.

Und natürlich braucht es Geschichten. Geschichten, die von dem großen Abenteuer erzählen, das Leben heißt. Ob sie schon seit Jahrhunderten erzählt werden oder gerade erst entstanden sind, spielt keine Rolle.

Wichtig ist, dass sie mit uns etwas zu tun haben und uns neugierig machen, auf das Leben und all die Geschichten, die noch erzählt werden wollen.

Wer gern eine sachlichere Antwort möchte, der lese jetzt weiter:

Aufgewachsen bin ich in Kärnten. Nach dem Abitur begannen die Lehrjahre, zunächst in einer Buchhandlung in Wien. Das Studium der Germanistik und Skandinavistik in Wien und Göttingen folgte.

Ein Studiensemester in Schweden stellte entscheidende Weichen. Wir sollten den Lernstoff in Geschichten erzählend wiedergeben. Selten ist mir Aneignen von Wissen so leicht von der Hand gegangen.

Nach Abschluss des Studiums blieb ich in Nordhessen, schließlich war ich mittlerweile verheiratet.

In den Kasseler Jahren bereicherten bald zwei Töchter mein Leben und wurden mir mit ihrem Hunger nach Büchern und Geschichten zu kritischen Lehrmeisterinnen.

In der damals neugegründeten Montessori-Schule-Kassel fand ich einen guten Ort mein Wissen kreativ und vielfältig an junge Menschen weiter zu geben.

Dort erlebte ich, wie intensiv lauschend gerade jene Kinder, die stets in Bewegung sein wollen, in Geschichten eintauchen, wenn frei erzählt wird.

Von dieser Entdeckung bestärkt, fand ich in den Kursen der Akademie Remscheid den Ort, das nötige Handwerkzeug zum Erzählen zu erlernen.

Im Sommer 2006 stellte ich mit dem Umzug von Kassel an den Stadtrand von Frankfurt das Erzählen in den Mittelpunkt meiner freiberuflichen Tätigkeit.

Seitdem erzähle ich auf Erzählfestivals und Märkten, in Museen und Bibliotheken, in Schulen, Kindergärten, in Buchhandlungen, und sehr gerne unterwegs auf Schusters Rappen mit einer Kiepe voller „Erzählgut“.

Kurz: ich erzähle überall, wo Menschen jeglichen Alters gerne in Geschichten eintauchen. Allein oder mit Kolleginnen und Kollegen, sehr gerne auch mit Musik verwoben: im Zusammenspiel mit der Geigerin Cornelia Ilg, dem Jazz-Saxophonisten Jakob Jentgens und dem Orgel-Virtuosen Bernhardt Brand-Hofmeister.

Neun Jahre erzählte ich in Frankfurter Kindertagesstätten für Kinder, die im Deutschen erst heimisch werden, u.a. im Rahmen des „Wortschatz-Projektes“. Jede Woche konnte ich hautnah erleben, wie sehr Erzählen nährt und welche Möglichen im freien Erzählen liegen.

Es fällt Kinder so viel leichter in der fremden Sprache und der neuen Umgebung anzukommen, wenn wir – fernab von einem Sprachförder-Programm - gemeinsam mit Spannung und Freude in Märchen und Geschichten eintauchen, mitfiebern und erleichtert ausatmen, wenn alles gut ausgegangen ist.

Gerne gebe ich meine Erfahrungen in Fortbildungen weiter. Die Arbeit mit ErzieherInnen und GrundschulpädagogInnen zeigt mir immer wieder, wie viele engagierte Menschen es gibt, die mit Freude und Elan das Ihre tun, um Kinder bei ihrem Älterwerden zu begleiten.

Sie im freien Erzählen zu bestärken, liegt mir am Herzen, damit so viele Kinder wie nur möglich in den Genuss kommen, ganz Ohr in erzählte Welten einzutauchen.

Seit 2012 gestalte ich für den Verein Kultur und Bahn e.V. das SpardaErzählfestival in Kassel, die ersten drei Jahre gemeinsam mit dem Initiator des Festivals Heiner Boehncke.

Dieses jährlich im Herbst wiederkehrende Fest der vielfältigen Erzählkunst inhaltlich zu planen und Erzählkünstlerinnen und -Künstler nach Kassel einzuladen und die Gäste mit Geschichten vom Feinsten zu verwöhnen, ist mir zu einer liebgewonnenen Aufgabe geworden, die mir seit 2015 alleine anvertraut ist.

Als 2020 das Festival nicht live stattfinden konnte, öffnete hr2-kultur bereitwillig seine Türen und lud uns ins Studio ein. Umsichtig betreut von Juliane Spatz entstehen seither Podcasts voller frei erzählter Geschichten und erfreuen ihre Zuhörer*innen weltweit.

Im Frühjahr 2021 haben mich die Wege wieder nach Kassel als neues und doch vertrautes Zuhause zurückgeführt.

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Gudrun Rathke ist professionelle Erzählerin zertifiziert durch den Verband der Erzählerinnen und Erzähler e.V. (VEE).